Die Weltmeisterschaft in Italien 1990 wird in Deutschland als ein absolutes Highlight der Fußballgeschichte erinnert, gar von der besten WM aller Zeiten ist bisweilen die Rede.
Aber außerhalb Deutschlands sind die Erinnerungen an das Turnier weniger rosig. Es war die WM mit den wenigsten Toren pro Spiel (2,21)[i]; in der Vorrundengruppe F mit England, Irland, den Niederlanden und Ägypten fielen nur sieben Tore in sechs Spielen, fünf der Partien endeten 0:0 oder 1:1. Irland kam mit drei Unentschieden und zwei Toren als Gruppenzweiter weiter – und erreichte mit einem weiteren 0:0 im Achtelfinale gegen Rumänien nach Elfmeterschießen sogar noch das Viertelfinale. Das Viertelfinale zwischen England und Kamerun war das einzige Spiel des gesamten Turniers, in dem beide Mannschaften mehr als ein Tor erzielen konnten – dafür benötigten sie allerdings auch drei Elfmeter. Der spätere Weltmeister Deutschland erzielte nach dem Achtelfinale kein einziges Tor mehr aus dem Spiel heraus: Das Viertelfinale gegen die Tschechoslowakei und das Finale gegen Argentinien wurden jeweils durch ein Elfmetertor 1:0 gewonnen, im Halbfinale gegen England ging es dank eines Freistoßtreffers zum zwischenzeitlichen 1:0 (Endstand 1:1) ins Elfmeterschießen.
Auch als besonders unfair wurde die WM wahrgenommen, 16 Platzverweise waren damaliger WM-Rekord – und das, obwohl die Schiedsrichter aus heutiger Sicht extrem viel durchgehen ließen. Abgerundet wurde das Ganze durch massives Zeitspiel; dadurch und durch die vielen Unterbrechungen wegen Fouls betrug die durchschnittliche Netto-Spielzeit bei dem Turnier unterirdische 45 Minuten. Als Reaktion führte die IFAB kurz nach dem Turnier mehrere neue Regeln ein: Um das enorme Zeitspiel mit Einbeziehung des Torhüters zu unterbinden, wurde die Rückpassregel eingeführt; das Defensivspiel sollte zukünftig dadurch erschwert werden, dass von nun an ein Stürmer, der sich auf gleicher Höhe mit den letzten Abwehrspielern befand, nicht mehr im Abseits stehen würde. Auch die Drei-Punkte-Regel wurde auf den Weg gebracht, um zu offensiverem Spiel zu animieren.
In einer besonders vernichtenden Kritik schrieb die BBC 2002, die WM 1990 sei dominiert gewesen von „negativem, defensivem Fußball, und das Finale war wohl das schlechteste der WM-Geschichte“[ii]. Auch der Independent war ungnädig: „Italien 1990 blieb mit Sterilität und Fouls als dunkelste Stunde des internationalen Fußballs in Erinnerung“[iii]. Nicht nur in der englischsprachigen Welt ist der Ruf des Turniers lausig; der uruguayische Dichter und Fußballautor Eduardo Galeano schreibt in seinem Rückblick z.B. von „langweilige[m] Fußball ohne Risiko, ohne Schönheit“[iv]. Und sogar im Sonderheft des Magazins 11Freunde, das die WM-Jahre von 1982 bis 1990 als „Goldene Jahre“ feiert, schreibt Christoph Biermann über die drei WMs dieser Zeit, sie seien eine „dunkle Ära“ gewesen, „in der grauenhafter Fußball gespielt wurde, dessen Protagonisten kalt lächelnde Zyniker waren.[v]“
Nein, spielerisch war die WM eine Enttäuschung. Es sind wohl ikonische Szenen wie Roger Millas Tanz an der Eckfahne und natürlich der Titelgewinn der Nationalmannschaft des jüngst wiedervereinten Deutschland, die das Elend hierzulande in der Erinnerung übertünchen.
[i] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/160824/umfrage/tore-pro-spiel-bei-fussball-wm-seit-1930/
[iii] Zitiert nach Eichler 2002, S. 430
[iv] Galeano 1998, S. 227
[v] Biermann, Christoph: Stumpf ist Trumpf. In 11Freunde Sonderausgabe 82, 86 & 90, Berlin 2022
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