An den ersten Weltmeisterschaften nahm England gar nicht teil. Angeblich hielt man sich ohnehin für das beste Team der Welt und brauchte das gar nicht weiter beweisen. 1950 in Brasilien war das Mutterland des Fußballs dann erstmals beim Weltturnier vertreten. Es folgte ein Debakel. Nach einem mühevollen 2:0-Sieg gegen Chile kassierte England zwei 0:1-Niederlagen gegen die USA und Spanien und schied bereits in der Vorrunde aus. Vor allem die Niederlage gegen die bunte Spaßtruppe aus den USA ist in die Fußballgeschichte eingegangen. Und ein kurioses Detail wird bis heute immer wieder erzählt: Als das Ergebnis der Partie gegen die Amerikaner aus Brasilien telegrafiert wurde, glaubten die Redakteure der englischen Zeitungen an einen Übertragungsfehler. 0:1 gegen die USA? Das konnte nicht sein, da war offenbar eine „1“ verloren gegangen. Und so vermeldeten die Morgenzeitungen Englands am Tag nach dem Spiel einen standesgemäßen 10:1-Sieg ihrer Mannschaft über die Amerikaner…
Diese Geschichte findet sich in fast allen Büchern zur WM-Geschichte oder über kuriose Fußballanekdoten, immer als Fakt. Wolfgang Hars, der für sein Buch „0,5:0“ zahlreiche Fußballlegenden recherchierte, bescheinigte: „Stimmt wirklich“. Selbst auf der offiziellen Website der FIFA wird die Geschichte als Tatsache berichtet[i]. Dabei klingt das Ganze etwas merkwürdig. Aus 0:1 einfach mal auf Verdacht ein 10:1 machen? Das wäre selbst für die berüchtigte britische Presse etwas extrem, oder?
Zum Glück lässt sich solchen Fragen heutzutage besser nachgehen als zu der Zeit, als der Mythos entstand. Das British Newspaper Archive hat hunderte Millionen von britischen Zeitungsartikeln online gestellt, die wichtigen Zeitungen sind im 20. Jahrhundert fast komplett vertreten. Für ihren Blog machten sich die Archivare 2014 auf die Suche nach den ominösen 10:1-Berichten; ich selbst habe das Archiv sicherheitshalber ebenfalls noch einmal durchgesehen. Das Ergebnis: Alle im Archiv vorliegenden Zeitungen, die am Morgen nach dem Spiel darüber berichtet haben, kannten und vermeldeten das korrekte Ergebnis[ii]. Von einem vermeintlichen 10:1 ist nirgendwo zu lesen. Die Western Morning News war eine der ersten Zeitungen, die an diesem Morgen erschienen. Ihre Überschrift lautete: „WM-Schock für England – von den USA geschlagen!“ Es gab also kaum Zeit für ein falsches Ergebnis, sich zu verbreiten.
Ist es denkbar, dass irgendeine obskure kleine Zeitung, die dem Online-Archiv entgangen ist, doch über ein 10:1 schrieb? Ganz auszuschließen ist es natürlich nicht. Aber unwahrscheinlich. Denn die Zeitungen wussten noch viel mehr zu berichten als das reine Ergebnis. So schilderte die Morning News recht ausführlich den Spielverlauf und auch, was Trainer Walter Winterbottom nach dem Spiel zu sagen hatte („Die Mannschaft hat sehr schlecht gespielt“). Das bedeutet: Übermittelt wurde aus Brasilien nicht nur eine Zahl, die vielleicht hätte falsch sein können, sondern ein ausführlicher Spielbericht. Ein Irrtum in der Heimat war kaum denkbar.
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