Spätestens seitdem ist es in sozialen Medien ein gewohntes Bild geworden: Schneidet die deutsche Nationalmannschaft schlechter ab als erwartet/erhofft, dann blökt es aus der rechten Ecke zuverlässig, das läge alles am mangelnden Nationalstolz. Wenn auf dem Nationaltrikot die deutsche Flagge zu sehen wäre, wenn man das Team DEUTSCHE NATIONALmannschaft nennen würde statt nur „Die Mannschaft“ und wenn eben die Nationalspieler vor dem Spiel die Hymne mitsingen würden… ja, dann wäre alles besser! Der vernunftbegabte Fan tut das meist als Humbug ab. Natürlich spielt es keine Rolle, ob Schwarz-Rot-Gold aufs Trikot gepinselt ist oder ob die Spieler die Nationalhymne singen, oder?
Bei aller Abscheu vor der Deutschtümelei: Der Rest mag Humbug sein, aber an der Sache mit der Hymne ist was dran. Bei der EM 2016 untersuchten englische Forscher den Effekt des Hymnensingens und stellten fest: Die Mannschaften, die vor dem Anpfiff lautstark ihre Nationalhymne gesungen hatten, kassierten signifikant weniger Tore; in den K.O.-Spielen waren ihre Siegchancen größer (dieser Effekt zeigte sich in den Gruppenspielen allerdings nicht)[i].
Die Forscher vermuten, dass die Performance beim Singen der Hymne etwas über den Zusammenhalt und die Einsatzbereitschaft des Teams aussagt – auch für die Spieler selbst, die durch den gemeinsamen Gesang nochmal angeheizt werden, und für die Gegner, die eingeschüchtert werden.
Würde es dann also etwas bringen, wenn die deutschen Nationalspieler zum Singen der Hymne verpflichtet werden würden, wie vielfach von Fans und vereinzelt aus der Politik gefordert wurde? Nein. Wichtig ist die Überzeugung, mit der gesungen wird. Eine Mannschaft, die aus Verpflichtung, aber ohne Begeisterung singt, hat keine positiven Effekte zu erwarten. So erging es zum Beispiel den Engländern, die bei der WM 2014 zum Hymnensingen verdonnert worden waren – und sieglos schon in der Vorrunde scheiterten.
Es ist auch nicht per se wichtig, dass es sich bei dem Dargebotenen um die Nationalhymne handelt. Was auch immer die Identifikation der Spieler mit dem Team steigert, funktioniert. Ein berühmtes Beispiel für einen vergleichbaren Effekt, der ohne Nationalhymne auskommt, ist der Haka, der Maori-Kriegstanz, den die Rugby-Nationalmannschaft Neuseelands vor Länderspielen aufführt. Für die englischen Fußballer wäre es also vielleicht hilfreicher gewesen, vor dem Spiel gemeinsam einen der vielen Lieblingssongs englischer Fans zu schmettern – „Sweet Caroline“ etwa.
Zu guter Letzt ist zu beachten: Der Hymneneffekt ist nur ein kleiner von zahllosen Aspekten, die sich auf ein Spielergebnis auswirken. Man kann auch trotz Gesang schlecht abschneiden – siehe Italien in den Qualifikationsspielen für die WMs 2018 und 2022. Oder ohne Gesang erfolgreich sein: Die deutschen Weltmeister von 1974 weigerten sich bekanntlich größtenteils, die Hymne zu singen. Und in den Jahren von 2008 bis 2012, als Spanien den Weltfußball dominierte, sang nicht ein einziges Mal ein spanischer Spieler auch nur ein Wort der Hymne – das ist schließlich gar nicht möglich, die spanische Nationalhymne hat keinen Text.
Dennoch: In einem engen Spiel kann der musikalische Auftritt vor dem Anpfiff das Zünglein an der Waage sein – und so ist es durchaus denkbar, dass Deutschland die EM-Partie gegen Italien 2012 tatsächlich wegen der Nationalhymne verlor…
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