Manche Irrtümer sind eher unter Fachleuten verbreitet als unter Laien. Dazu gehört die falsche Annahme, Weitschüsse seien aufgrund der geringen Trefferquote dringend zu vermeiden. Viele moderne Trainer, darunter zum Beispiel Pep Guardiola, möchten von ihren Teams möglichst keine Schüsse von außerhalb des Strafraums sehen. Guardiola hätte den am Ende sieg- und titelbringenden Weitschuss seines Spielers Vincent Kompany im Premier-League-Spiel gegen Leicester City 2018/2019 am liebsten verhindert. „Nicht schießen, passen!“, ging ihm nach eigener Aussage in den entscheidenden Sekunden durch den Kopf. Zu Unrecht, nicht nur in dieser Situation. Die Abneigung gegen Weitschüsse (definiert als Torschüsse von außerhalb des Strafraums) im modernen Fußball entspringt einer unzureichenden Statistikanalyse.
Laien überschätzen Weitschüsse in der Regel. Jeder hat irgendein spektakuläres Tor von weit draußen im Kopf, und so herrscht die Ansicht vor, „einfach mal draufzuhalten“ bringe besondere Torgefahr. Experten halten dagegen: Je weiter das Tor weg ist, desto schwerer ist es zu treffen, und desto mehr Zeit hat der Torwart, sich auf den kommenden Ball einzustellen. Tatsächlich liegt die Trefferwahrscheinlichkeit bei einem Schuss innerhalb des Strafraums je nach Zone immerhin zwischen rund 35% und rund 10%. Bei einem Schuss von außerhalb des Strafraums sinkt sie hingegen auf etwa 4% und wird mit steigender Entfernung vom Tor immer kleiner[i]. Rund 75% aller Schüsse von außerhalb des Strafraums gehen sogar so deutlich am Tor vorbei, dass der Torwart nicht einzugreifen braucht. Es scheint klar zu sein, dass es lohnender ist, einen Ball aus „günstiger“ Weitschussposition weiterzuspielen, um zu einem Abschluss innerhalb des Strafraums zu kommen, und so sehen es eben auch viele der modernen Trainer, die viel mit Statistiken arbeiten.
Dabei wird jedoch vergessen: Einen Ball aus möglicher Weitschussposition weiterzuspielen führt nicht zwingend dazu, dass man im Strafraum abschließen kann. Der Ball kann ja zum Beispiel auch verloren gehen. Eine Opta-Analyse von 2014 ging der Frage nach, ob ein Weitschuss nicht bisweilen die bessere Alternative ist. Dazu wurden die Aktionen analysiert, die zwischen 2011 und 2013 in der Premier League auf eine „günstige“ Weitschussposition in einer Torentfernung von zwischen etwa 20 und 30 Metern[1] folgten, sowie die Torquote für die jeweiligen Aktionen ermittelt. Das überraschende Ergebnis: Die beiden besten Optionen, beide mit einer Trefferwahrscheinlichkeit von etwa 3,9%, waren der Steilpass ins Zentrum – und der sofortige Schuss. Alle anderen Optionen hatten wesentlich seltener ein Tor zur Folge – ein Dribbling etwa führte nur in 2,8% der Fälle zu einem Tor, ein sicherer Pass zu einem nahen Mitspieler sogar nur in 2% der Fälle. Die schlechteste Option war ein Pass auf den Flügel – nur 1,6% dieser Versuche zogen einen Treffer nach sich[ii]. Eine belgische Studie von 2021 kam zu einem ähnlichen Ergebnis[iii].
Ein Weitschuss ist also in Wirklichkeit oft eine gute Option – immerhin vermeidet man so das Risiko, den Ball auf dem Weg zu einer besseren Schussposition noch zu verlieren.
[1] Es war eine englische Studie, die tatsächlich betrachtete Entfernung lag zwischen 25 und 35 Yards.
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