Ballbesitz als Schlüssel zum Sieg – das war schon immer eine beliebte Annahme, besonders populär wurde sie aber in den frühen 2010er Jahren, als Teams wie der FC Barcelona, Bayern München oder die spanische Nationalmannschaft mit auf Ballbesitz ausgerichtetem Spiel den Weltfußball dominierten. Die Überzeugung bekam spätestens ab Mitte der 2010er große Risse, als Spanien und das ebenfalls auf Ballbesitz spielende Deutschland Jogi Löws international einbrachen und schneller Konterfußball mit eher wenig Ballbesitz Portugal und Frankreich zu Erfolgen führte.
Studien zum Thema kommen immer wieder zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen – je nachdem, welchen Wettkampf in welcher Zeit sie betrachten und welche Frage genau sie stellen. So fand der Sportwissenschaftler Roland Loy 2008, kurz vor der Ära des Ballbesitzfußballs, heraus, dass nur ein Drittel aller Spiele von den Mannschaften mit mehr Ballbesitz gewonnen wurden, Mannschaften mit weniger Ballbesitz also erfolgreicher waren. Die große Bedeutung des Ballbesitzes bezeichnete er daher als „das reinste Märchen“[i]. Eine Studie des CIES-Fußball-Observatoriums kam dagegen 2019, kurz nach der großen Ära des Ballbesitzfußballs, zu dem Schluss, Ballbesitz sei außerordentlich wichtig – die Punktausbeute nehme mit steigendem Ballbesitz enorm zu, eine Mannschaft mit mehr als 75% Ballbesitz sei praktisch schon der sichere Sieger[ii]. Etwa zur selben Zeit erstellte die UEFA wiederrum eine Analyse, die besagt: Zwischen Ballbesitz und Erfolg lässt sich kein Zusammenhang erkennen[iii].
Aber all diese Studien haben einen grundsätzlichen Fehler: Sie behandeln Ballbesitz als eine erstrangige Statistik – dabei handelt es sich um eine zweitrangige Statistik, die sich aus zahlreichen wichtigeren Primärstatistiken wie der Passsicherheit und der Sicherheit in der Balleroberung zusammensetzt[iv].
Besonders deutlich lässt sich dieser Denkfehler an der CIES-Studie zeigen. Es ist keine Überraschung, dass eine Mannschaft mit mehr als 75% Ballbesitz in aller Regel gewinnt – diese Mannschaft ist dem Gegner ja offenbar so haushoch überlegen, dass der kaum an den Ball kommt. Das Team ist nicht so stark, weil es so viel Ballbesitz hat, wie die Statistiker fälschlich vermuten, sondern es hat so viel Ballbesitz, weil es so stark ist.
Mannschaften gewinnen aufgrund ihrer Stärke, nicht aufgrund einer Prozentzahl beim Ballbesitz. Spielt ein sehr starkes Team auf Ballbesitz, gewinnt es mit hoher Ballbesitzquote. Spielt ein sehr gutes Team auf schnelle Balleroberung und blitzartige Konter, gewinnt es mit niedriger Ballbesitzquote. Umgekehrt verlieren schwache Teams je nach ihrer Taktik mit viel oder wenig Ballbesitz (wobei sie es schwieriger haben werden, zu viel Ballbesitz zu kommen). Die nackte Zahl des Ballbesitzes hat keinerlei Auswirkungen auf Sieg oder Niederlage, und ein Trainer macht seine Mannschaft nicht zwangsläufig stärker, wenn er auf mehr Ballbesitz spielen lässt.
[i] Loy, Roland: Das Lexikon der Fußballirrtümer, München 2010. S. 81
[ii] https://www.bluewin.ch/de/sport/fussball/wieso-ballbesitz-im-fussball-so-unglaublich-wichtig-ist-202697.html
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