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IRRTUM: Deutschland ist eine Turniermannschaft

 Geht Deutschland nicht als Favorit in ein großes Turnier, dann wird reflexartig die „Turniermannschaft“ beschworen. In den Vorbereitungsspielen schlecht ausgesehen? Seit Monaten völlig außer Form? Leistungsträger fallen aus, Stimmung ist schlecht, Qualifikation war auch schon lausig? „Wird schon, Deutschland ist eine Turniermannschaft!“

Aber gibt es tatsächlich einen Grund davon auszugehen, dass eine deutsche Nationalmannschaft grundsätzlich eine Turniermannschaft ist?

Zunächst mal muss man festhalten, dass der Begriff „Turniermannschaft“ nicht klar definiert ist. Meist wird er auf eine Mannschaft bezogen, die im Vorfeld eines großen Turniers schlechte Leistungen gezeigt hat, sich dann aber im Turnierverlauf steigert und in den entscheidenden Partien starke Leistungen abliefert[i]. Nach anderen Definitionen muss auch das Turnier schlecht anfangen, die Steigerung im Verlauf steht also im Mittelpunkt[ii]. Einigen kann man sich wohl auf jeden Fall darauf, dass eine Turniermannschaft als Außenseiter startet, immer besser wird und ein überraschendes Ergebnis holt.

2010 wurden in einer Studie der Universität Duisburg Essen die Leistungen von Nationalmannschaften bei den damals letzten neun Welt- und Europameisterschaften mit den Leistungen der Mannschaften im Vorfeld des Turniers verglichen[iii]. Dabei kam heraus, dass Deutschland gerade einmal in 25% der Turniere die Leistung gegenüber der Vorbereitung verbessern konnte – nicht gerade die Statistik einer Turniermannschaft. Demgegenüber stehen zum Beispiel die Engländer, denen oft unterstellt wird, bei Turnieren schlimm zu versagen, die sich aber in Wirklichkeit in 67% der Turniere gegenüber der Qualifikation und Vorbereitung steigerten.

Diese Statistik sollte eigentlich auch nicht weiter überraschen, wenn man das Klischee der Turniermannschaft mal außen vorlässt und unvoreingenommen an die letzten Wettkämpfe zurückdenkt. Wann war Deutschland denn das letzte Mal wirklich eine Turniermannschaft? Bei den EMs 2000 und 2004, als man nach schwacher Vorbereitung auch jeweils ein schwaches Turnier spielte und in der Vorrunde scheiterte? Sicher nicht. Vielleicht am ehesten bei der WM 2002, wobei die Leistung im Laufe des Turniers in diesem Falle nicht wirklich besser wurde. In der Ära Jogi Löw spielte Deutschland meist starke Qualifikationsspiele, gewann die Vorrunde und scheiterte dann im entscheidenden Moment – ausgenommen 2014, als man nach starker Qualifikation als Mitfavorit antrat und den Titel gewann. Regelrecht als Anti-Turniermannschaft zeigte man sich dann bei der WM 2018, als man nach einer sensationellen Qualifikation ohne Punktverlust und dem Sieg im Confederations Cup im Vorfeld ein grauenhaftes Turnier spielte und in der Vorrunde ausschied.

Selbst nach der oberflächlichsten Definition des Begriffs – „Eine Turniermannschaft ist eine Mannschaft, die bei Turnieren besser abschneidet als erwartet“ – kann man Deutschland nach den Enttäuschungen von 1938, 1968, 1984, 1978, 1994, 1998, 2000, 2004, 2018, 2021 und 2022 kaum als eine zuverlässig abliefernde Turniermannschaft bezeichnen.

2010 wurde in einem Artikel der Zeitschrift 11Freunde gefordert, „Turniermannschaft“ zum Unwort zu erklären[iv]. Es wäre an der Zeit.  

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