In Deutschland wird jedes Ausscheiden der englischen Nationalmannschaft bei großen Turnieren mit viel Häme bedacht. Die Engländer blamieren sich ja ständig! Auch in England ist man weithin der Ansicht, die heimische Nationalelf würde grundsätzlich unterperformen, wobei dort das Narrativ vorherrscht, England sei qualitativ ein verdienter Weltmeister und würde immer wieder an Schicksalsschlägen scheitern, mit denen sich andere Nationen nicht herumschlagen müssen. Als Erklärung für das schwache Abschneiden Englands wird gerne angeboten, dass die vielen Ausländer in der Premier League die Nationalmannschaft schwächen, oder aber es wird über grundsätzliche Mentalitätsprobleme spekuliert. Aber ist die Grundprämisse überhaupt richtig? „Blamiert“ sich England regelmäßig, indem es schlechter abschneidet, als zu erwarten wäre?
Um diese Frage zu beantworten, muss man zunächst feststellen, welche Leistungen von England überhaupt zu erwarten wären. Genau das taten der Fußballautor Simon Kuper und der Sportwissenschaftler Stefan Szymanski für ihr Buch Soccernomics von 2012. Sie verglichen die Fußballnationen nach den nicht oder nur schwer und langsam veränderlichen Faktoren, die den Erfolg in Länderspielen maßgeblich beeinflussen: Die Bevölkerungszahl des Landes (denn die beeinflusst entscheidend die Menge der Talente, auf die zurückgegriffen werden kann), das Nationaleinkommen (wieviel Geld steht zur Verfügung und kann auch in die Förderung des Fußballs investiert werden?) und die gesammelte historische Fußballerfahrung. In einem dieser Faktoren hat England einen deutlichen Nachteil gegenüber den Nationen, mit denen es meist verglichen wird: Seine rund 50 Millionen Einwohner sind kein Vergleich zu den 212 Millionen Brasilianern oder den 80 Millionen Deutschen, und man liegt auch noch hinter Frankreich und Italien (je rund 60 Millionen Einwohner). Da man in Sachen Einkommen und historischer Erfahrung auf einem ähnlichen Level liegt wie insbesondere die großen europäischen Konkurrenten, ist vor allem dieser Faktor entscheidend.
Kuper und Szymanski rechneten das anhand der WM 1998 vor: Im ersten Spiel gegen Tunesien wäre im Vergleich der Faktoren ein englischer Sieg mit einem Tor Vorsprung zu erwarten gewesen. Das Spiel endete 2:0 für England, man performte also besser als erwartbar. In der zweiten Partie gegen Rumänien errechneten Kuper und Szymanski einen englischen Vorteil im Wert eines halben Tores. England unterlag aber mit 1:2, schnitt also um anderthalb Tore schlechter ab als zu erwarten. In der dritten Vorrundenpartie betrug der englische Vorteil etwa ein Tor, England siegte aber 2:0 – ein Tor besser als erwartbar. Es folgte das K.O.-Spiel gegen Argentinien, das nach den Daten hätte Unentschieden ausgehen müssen. Genau das geschah, aber da es ein K.O.-Spiel war, ging die Partie ins Elfmeterschießen, und England schied aus. Das Ergebnis wurde als weitere englische Enttäuschung verbucht, tatsächlich hatte England aber ein halbes Tor mehr erzielt als zu erwarten, statistisch also überperformt. Mit derselben Herangehensweise untersuchten die Forscher auch, wie England tatsächlich gegen den „Angstgegner“ Deutschland abschnitt. Zu erwarten war aufgrund von Deutschlands höherem nationalen Einkommen und der größeren Bevölkerungszahl, dass die Deutschen im direkten Duell im Laufe von zehn Vergleichen insgesamt zwei Tore mehr erzielen würden als die Engländer - und fast genau das war das Durchschnittsergebnis der zehn Duelle im beobachteten Zeitraum von 1980 bis 1998. England blamierte sich gegen Deutschland nicht, sondern lieferte etwa das ab, was zu erwarten war.
Insgesamt kamen Kuper und Szymanski zu dem Schluss, dass England in diesem Zeitraum bessere Ergebnisse erzielte, als man nach der englischen Ausgangslage erwarten konnte, und mehr aus seinen Möglichkeiten machte als zum Beispiel Italien oder das vereinte Deutschland[1]. Auch seit 2012 überperformte England, sogar noch deutlicher – auch wenn es natürlich immer mal Ausrutscher gab und gibt. Die Niederlage gegen Island bei der EM 2016 wäre z.B. niemals zu erwarten gewesen…
Wenn England aber in Wirklichkeit besser abschneidet, als zu erwarten wäre, warum sind dann die Fans weltweit so vom Gegenteil überzeugt? Ganz einfach: Die Erwartungen an England sind zu groß. Die Fans bewerten Englands Status als „Mutterland des Fußballs“ und Nation mit der stärksten heimischen Liga über und schenken nachteiligen Faktoren wie der vergleichsweise niedrigen Bevölkerungszahl zu wenig Beachtung…
[1] Vor der Wiedervereinigung 1990 überperformten sowohl Westdeutschland als auch die DDR allerdings jeweils noch deutlicher als England. Honduras war zwischen 1980 und 1998 die Nation, die die Erwartungen am deutlichsten übertraf, in Europa lag Georgien vorne.
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