Im Jahr 1960 fand der Europapokal der Nationen statt, heute als erste Europameisterschaft betrachtet. Spanien galt als hoher Favorit und potentieller Endrunden-Gastgeber, doch dann boykottierten die Iberer das Turnier stattdessen.
Um das zu verstehen, muss man sowohl den Modus des Turniers als auch die politische Situation im damaligen Europa kennen. Der Europapokal der Nationen wurde bis ins Viertelfinale als K.O.-Turnier mit Hin- und Rückspiel ausgetragen, d.h. es wurde jeweils einmal in der Heimat beider Kontrahenten gespielt. Erst ab dem Halbfinale würde eine Nation, die dann noch dabei wäre, als Gastgeber für die entscheidenden Spiele übernehmen.
Das Ganze stand im Schatten der politischen Spannungen im Europa des Kalten Krieges, dem Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus – und dem letzten faschistischen Regime in einer großen europäischen Nation, Spanien unter dem Diktator Franco.
Als Faschist hasste Franco Kommunisten, und als Spanien im Viertelfinale gegen die Sowjetunion antreten sollte, untersagte der Diktator den Antritt kurzfristig. Undenkbar, dass spanische Sportler die Sowjetunion besuchen würden, noch undenkbarer, dass im Rückspiel die sowjetische Hymne auf spanischem Boden abgespielt werden würde. Die Sowjetunion fuhr kampflos zur EM, die in Frankreich endete, und gewann sie sogar.
Eine in Deutschland verbreitete Legende besagt nun, die Spieler der spanischen Nationalmannschaft hätten erst am Flughafen von dem Boykott erfahren, wo sie noch auf den Flieger nach Russland gewartet hätten. In vielen Darstellungen der Szene wird dramatisches geschildert: Spieler seien in Tränen ausgebrochen, Spaniens großer Altstar Alfredo di Stefano sei händeringend und „Warum? Warum?“ schreiend durch die Flughafenkorridore gelaufen.
Aber dieser Teil der Geschichte ist komplett erfunden. Die Spanier standen keinesfalls am Flughafen und waren wohl auch nicht entsetzt und verzweifelt – die Absage bahnte sich schon länger an, jeder in Spanien wusste, dass Franco nichts mit Kommunisten zu tun haben wollte. Und am 26. Mai 1960, als der Boykott offiziell wurde, hatte di Stefano gerade anderes zu tun, als entgeistert durch einen Flughafen zu irren: Er und zahlreiche andere Spieler der Nationalmannschaft bestritten gerade mit Real Madrid ein Freundschaftsspiel gegen Borussia Dortmund im Rahmen eines Testturniers in Sevilla… Offenbar stammt die wilde Mär von den am Flughafen wartenden Spaniern aus einem Buch, das 1964 in der DDR erschien und die Menschen- und Fair-Play-Verachtung des Faschismus besonders plastisch darstellen wollte.
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