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Jubiläums-Spezial: Wembley-Mythen

 Zur Feier des 100sten Irrtümer-Posts auf dieser Seite widmen wir uns gleich mehreren in Deutschland extrem populären Mythen, die sich um eine einzige Szene ranken. Denn ein Moment überschattet in der deutschen Fußballwahrnehmung alle anderen und ist von mehr unreflektiert immer weiter erzählten Mythen umrankt als jede andere Spielszene der Fußballgeschichte: Das fünfte Tor im WM-Finale 1966 zwischen Deutschland und England, das dritte für die Briten und letztlich das Siegtor. Das „Wembley-Tor“. Der Schuss von Geoff Hurst in der 11. Minute der Nachspielzeit knallte an die Unterkante der Latte, sprang auf den Boden und von dort aus dem Tor heraus. Die Engländer jubelten, der Schiedsrichter erkannte auf Tor und Deutschland unterlag. Die Überzeugung, der Ball sei nicht über der Linie gewesen und Deutschland damit um den Sieg betrogen worden, sorgt noch heute für Ressentiments gegenüber der englischen Fußballnationalmannschaft. Aber bei weitem nicht alles, was die deutschen Fans über jenes Spiel und jenes Tor zu wissen meinen, stimmt auch tatsächlich. Grund genug, sich den 30. Juli 1966 einmal genauer anzusehen…

 

Irrtum: Der Schiedsrichter war Russe

Wird über das Finale von Wembley 1966 gesprochen, dann wird fast immer der „russische Schiedsrichter“ attackiert – oft verbunden mit der implizierten oder auch direkt ausgesprochenen Anschuldigung, als Sowjet habe er die westdeutsche Mannschaft aus politischen Gründen benachteiligt[1]. Aber der Schiedsrichter war kein Russe – das Endspiel leitete der Schweizer Gottfried Dienst[i]. Vermutlich liegt bei der Legende vom russischen Schiedsrichter eine Verwechslung vor: Tofiq Bǝhramov, der Linienrichter, der Dienst riet, das „Wembley-Tor“ anzuerkennen, war tatsächlich Sowjet. Allerdings war auch er streng genommen kein Russe, sondern Aserbaidschaner[ii]

 

Irrtum: Das Wembley-Tor war eindeutig kein korrektes Tor

War das Wembley-Tor nun hinter der Linie oder nicht? Meist liest oder hört man, insbesondere in deutschen Veröffentlichungen: Definitiv nicht, diese oder jene Studie habe das längst bewiesen, den Treffer zu geben sei eine klare Fehlentscheidung gewesen.

Doch so eindeutig ist die Sache offenkundig nicht. In der Tat gibt es Studien, in denen die (mangelhaften) Fernsehbilder so akribisch wie möglich ausgewertet oder die möglichen Flugkurven des Balls physikalisch berechnet wurden, und die zu dem Schluss kommen: Kein Tor. Aber es gibt eben immer wieder auch gegenteilige Untersuchungen. Eine physikalische Berechnung von Jens Falta aus dem Jahr 2006 ergab: Möglicherweise im Tor[iii]. Im selben Jahr setzte sich der deutsche Physikprofessor Metun Tolin ausführlichst mit dem Fall auseinander und verkündete: Der Ball war wohl in der Luft für etwa 0,02 Sekunden in komplettem Umfang hinter der Linie[iv]. Fürs menschliche Auge kaum wahrzunehmen, aber regelkonform – korrekter Treffer! Auch der englische Sportsender Sky Sports UK kam 2016 mit Hilfe aufwändiger Computersimulationen zu dem Ergebnis, dass der Ball hinter der Linie und das Tor somit regelkonform war. Warum frühere vergleichbare Studien andere Ergebnisse brachten? „Inzwischen ist die Computer- und Torlinien-Technologie extrem weit fortgeschritten und verbessert worden“, so Sky-Experte Stuart Mawhinney[v].

Letztlich ist mit den vorliegenden Bildern möglicherweise einfach keine definitive Entscheidung zu treffen.

 

Irrtum: Der Schiedsrichter handelte korrekt, als er das Wembley-Tor gab

Verteidiger des Schiedsrichterteams weisen oft darauf hin, dass Dienst auch im Falle des Wembley-Tores absolut korrekt gehandelt habe, unabhängig davon, ob der Ball hinter der Linie gewesen sei oder nicht. Denn für den Schiedsrichter sei unmöglich zu entscheiden gewesen, ob der Ball im Tor war. Er musste eine Tatsachenentscheidung treffen, und schon damals galt inoffiziell die Richtlinie „Im Zweifel für den Stürmer“.

So weit ist das zwar alles richtig, aber dennoch hat Dienst eindeutig falsch gehandelt, als er den Treffer gab. Denn er hatte bereits eine Tatsachenentscheidung getroffen und eine Ecke angezeigt, bevor er sich von seinem Linienrichter Bǝhramov beraten ließ, der den Ball hinter der Linie gesehen haben wollte. Der Linienrichter darf aber eine Schiedsrichterentscheidung nicht überstimmen, und eine getroffene Entscheidung durfte in Zeiten vor dem Videobeweis nicht mehr zurückgenommen werden. Völlig egal, ob der Ball im Tor war oder nicht, das Spiel hätte mit einem Eckball für England weitergehen müssen[vi].

 

Irrtum: Den Deutschen wurde durch das Wembley-Tor der sichere Sieg gestohlen

Der Kern der deutschen Wembley-Dolchstoß-Legende ist natürlich die Behauptung, der deutschen Nationalmannschaft sei durch die Entscheidung der sichere Sieg gestohlen worden – ohne das „Wembley-Tor“ sei Deutschland Weltmeister geworden.

Man muss hier hinterfragen, wie berechtigt diese Überzeugung ist. Die meisten internationalen Beobachter sahen England als das stärkere Team, das schon nach der regulären Spielzeit ein verdienter Sieger gewesen wäre. Deutschland rettete sich mit Müh und Not durch einen Last-Minute-Treffer nach einem umstrittenen Freistoß in die Verlängerung. Auch in die starteten die Briten furios; Charlton zwang Torhüter Tilkowski nach drei Minuten zu einer Glanztat, traf nach fünf Minuten den Pfosten. Das Führungstor für England war folgerichtig[vii]. Auch danach wurde Deutschland nicht mehr wirklich torgefährlich, England traf kurz vor Schluss noch zum 4:2. Um hier einen sicheren deutschen Sieg zu sehen, einen vor der Nase gestohlenen Weltmeistertitel, braucht es einiges an Fantasie.

Übrigens: Hätte es nach der Verlängerung noch Unentschieden gestanden, hätte es kein Elfmeterschießen gegeben – das gab es damals noch nicht. Statt in ihrer späteren Königsdisziplin antreten zu dürfen, hätten die merklich erschöpften Deutschen in ein Wiederholungsspiel gemusst[viii].

Abschließend lässt sich natürlich nicht sagen, wie das Spiel weiterverlaufen wäre, wenn das „Wembley-Tor“ nicht gezählt hätte – oder wie ein eventuelles Wiederholungsspiel ausgegangen wäre. Die in Deutschland vorherrschende Überzeugung, man hätte auf jeden Fall gewonnen, ist aber auf keinen Fall sachlich zu begründen.

 

Irrtum: Auch das vierte englische Tor war irregulär

Neben dem „Wembley-Tor“ sorgt auch der letzte englische Treffer zum 4:2-Endstand in der 119. Minute immer wieder für Diskussionen. Das Spiel hätte angeblich unterbrochen werden müssen, weil sich bereits Fans auf dem Platz befanden, die einen Pfiff aus dem Publikum für den Schlusspfiff gehalten hatten. Derselbe Pfiff habe auch die deutschen Spieler irritiert, die teilweise das Spiel einstellten. Hurst nutzte die Verwirrung und schoss frei aufs Tor – regelwidrig, oder?

Nein. Zuschauer auf dem Platz oder Pfiffe aus dem Publikum führen nur dann zwingend zur Spielunterbrechung, wenn sie das Spielgeschehen beeinflussen. Ob das der Fall ist, liegt einzig im Ermessen des Schiedsrichters[ix]. Ein Extremfall (Zuschauer behindern die Spieler direkt; ein Spieler nimmt den Ball in die Hand, weil er vom Abpfiff ausgeht) lag in Wembley nicht vor, und so kann man zwar das „Fingerspitzengefühl“ von Dienst kritisieren, Hursts Treffer war aber regelkonform.

 

Irrtum: Das berühmte Foto von Uwe Seeler mit hängendem Kopf entstand in der Halbzeitpause

Das berühmte Foto von Sven Simon zeigt den deutschen Mannschaftskapitän Uwe Seeler, wie er mit hängendem Kopf vom Platz geht. Ein Sicherheitsmann begleitet ihn, legt ihm die Hand auf den Rücken. Zu Seelers Rechten hat eine Marschkapelle Aufstellung genommen. Das Bild des geknickten Kapitäns, pure Enttäuschung und Kraftlosigkeit, wurde zum Sinnbild der vermeintlich unverdienten Niederlage – und 2000 zum deutschen Sportfoto des Jahrhunderts gewählt.

Aber wann wurde es geschossen? Nach dem Spiel natürlich, war lange die Überzeugung. Aber dann erhoben sich zweifelnde Stimmen. Angeblich sei die Kapelle nur in der Halbzeitpause auf dem Platz gewesen, das Foto sei demnach zwischen den Spielhälften entstanden. Das legendäre Foto also kein Bild der Niederlage, sondern eine zufällige Momentaufnahme beim ja gar nicht so niederschmetternden Pausenstand von 1:1?

Nein. Schon früh hatten Fernsehbilder belegt, dass das Hauptargument der Zweifler nicht stimmte: Die Kapelle war auch nach dem Spiel auf dem Platz. Und 2016 untersuchte ein Team um Manuel Neukirchner vom Deutschen Fußballmuseum in Dortmund die originalen Fotonegative. Das Ergebnis: Auf dem Film finden sich nur vor dem Seelerfoto Bilder von Spielszenen, nach dem umstrittenen Bild gibt es nur noch Aufnahmen von feiernden Engländern. Das Foto wurde definitiv nach dem Spiel geschossen[x].

 

Irrtum: Der Schiedsrichter (auch: Der Linienrichter/beide) wurde nach dem Wembley-Finale lebenslang gesperrt

Eine weitere hartnäckig verbreitete Geschichte zum Wembleyfinale besagt, Schiedsrichter Dienst und/oder Linienrichter Bǝhramov hätten danach nie wieder ein Spiel geleitet – sie seien entweder von der FIFA lebenslang gesperrt worden oder wären freiwillig zurückgetreten. Wenn das stimmt, dann liegt doch nahe, dass damals nicht alles mit rechten Dingen zuging, oder?

Aber, ach, es stimmt nicht: Dienst war noch bis 1968 im internationalen Einsatz und beendete seine Karriere mit einem weiteren großen Finale, dem Endspiel der Europameisterschaft 1968 zwischen Italien und Jugoslawien[xi]. Bǝhramov leitete bei der WM 1970 drei Spiele als hauptverantwortlicher Schiedsrichter, darunter ein Halbfinale. 1972 pfiff er das UEFA-Pokal-Finale[xii]. Gesperrt waren beide nie.

 

Irrtum: Das Wembley-Tor gilt heute als der größte Skandal der WM-Geschichte

In deutschen WM-Rückblicken wird das Finale von 1966 oft als „umstrittenstes Spiel der Geschichte“ eingeleitet, das Wembley-Tor als „meistdiskutierte Schiedsrichterentscheidung“ oder gar als „größter WM-Skandal“. Das wird aber allerhöchstens in Deutschland so gesehen; außerhalb des deutschen Sprachgebietes ist der Begriff „Wembley-Tor“ gänzlich unbekannt.

In internationalen Rückblicken ist die Diskussion um das Tor bisweilen eine Erwähnung wert, wird aber selten im Detail verfolgt. Es war eine knappe Entscheidung, von der die ohnehin überlegene Mannschaft profitierte – das hat nicht das Zeug zum unumstrittenen Superskandal.

Tatsächlich hat fast jede Nation ihre eigene WM-Dolchstoßlegende, die in der Heimat für den größten Skandal aller Zeiten gehalten wird – und einige dieser Fälle sind objektiv betrachtet wohl tatsächlich skandalöser als das „Wembley-Tor“. Um nur ein paar Beispiele zu nennen:

è Für England ist es die „Hand Gottes“, Diego Maradonas‘ Tor per Handspiel im Viertelfinale der WM 1986 zwischen England und Argentinien.

è Für Italien und Spanien sind es die verpfiffenen Partien im Achtelfinale bzw. Viertelfinale der WM 2002, jeweils gegen Südkorea, als den europäischen Favoriten gegen den Gastgeber reihenweise korrekte Tore aberkannt und hanebüchene Platzverweise erteilt wurden.

è Für die USA ist es das ungeahndete Handspiel auf der Linie, mit dem Deutschlands Thorsten Frings im WM-Viertelfinale 2002 ein sicheres Tor der Amerikaner verhinderte. Auch Uruguay fühlt sich bis heute durch ein deutsches Handspiel auf der Linie betrogen, in diesem Falle im Halbfinale 1966 (!).



[1] Man darf hier natürlich auch hinterfragen, warum ein Sowjet das ebenfalls westliche und eng mit den USA verbündete England hätte vorziehen sollen…

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