Im Fußball schaut alles auf die absoluten Superstars: Cristiano Ronaldo, Lionel Messi, Neymar, Mo Salah; in früheren Jahren Zinedine Zidane, David Beckham, Luis Figo, Ronaldinho oder noch weiter zurück Michel Platini, Franz Beckenbauer, Diego Maradona, Pelé. Sie waren es, die ihre Teams erfolgreich machten und ihre Schwächephasen kosteten Titel – denn entscheidend für den Erfolg einer Mannschaft sind die stärksten Spieler, nicht wahr?
Nein, sagen die Vertreter der O-Ring-Theorie[1]. Diese ursprünglich aus der Wirtschaft stammende Theorie besagt, dass der Erfolg eines Systems bzw. eines Teams weniger vom stärksten Element abhängt als vom schwächsten[i].
Auf den Fußball angewandt heißt das: Eine Mannschaft ist dann erfolgreich, wenn der schwächste Spieler auf dem Feld eine solide Leistung abruft. Ein hervorragender Spieler hingegen bringt wenig, wenn ein kompletter Holzfuß in seinem Team seine Bemühungen unabsichtlich sabotiert.
Genau analysiert wurde das just in der Premier-League-Saison 2015/2016, die gleich ein besonders deutliches Beispiel dafür lieferte: Leicester City wurde völlig überraschend ohne ganz großen Star englischer Meister. Danach wurde viel über die besten Spieler wie Ryad Mahrez und Jamie Vardy gesprochen, doch was die Leistung Leicesters statistisch von den anderen großen Teams unterschied, waren die Auftritte der beiden schwächsten regelmäßig eingesetzten Spieler, Danny Simpson und Marc Albrighton, die durchgängig solide waren[ii].
Die Anwendung der O-Ring-Theorie auf Mannschaftssport ist nicht unumstritten, kann aber viele vermeintliche Anomalien erklären. Warum spielte die schwedische Nationalelf kurz nach dem Rücktritt von Zlatan Ibrahimovic, dem wohl besten schwedischen Fußballer aller Zeiten, erfolgreicher? Weil viele solide neue Spieler dazukamen und weniger schwache Fußballer eingesetzt werden mussten! Warum ist Atletico Madrid mit verhältnismäßig wenig Geld recht erfolgreich? Weil Coach Diego Simeone konkret auf die O-Ring-Theorie setzt. „Dass derjenige mit den meisten Angriffen gewinnt, ist eine Lüge“, sagt Simeone, „Es gewinnt derjenige, der am wenigsten Fehler macht. Deshalb setzen wir dort an, wo wir die Schwachpunkte des Gegners sehen.“ Außerdem bemüht sich Simeone stets, den „besten schlechtesten Spieler der Liga“ im Team zu haben – eine effektive Anwendung der O-Ring-Theorie[iii].
Und natürlich beantwortet sich so die Frage, die zahlreiche Fußballfans meiner Generation umtreibt – warum waren die „Galaktikos“ nicht erfolgreicher? Als Galaktikos bezeichnete man die Mannschaft von Real Madrid in den frühen 2000er Jahren. Mit der Verpflichtung von absoluten Weltstars wie Luis Figo, Zinedine Zidane, Ronaldo und David Beckham und verstärkt von ein paar hervorragenden Eigengewächsen wie Raul und Iker Casillas galt sie als bestes Team der Welt. Doch nach ein paar anfänglichen Erfolgen ging es schnell und heftig bergab – zwischen 2003 und 2006 blieb man komplett titellos und schied in der Champions League früh aus, zweimal schon im Achtelfinale. Was war schiefgegangen? Neben den teuren Weltstars wurde die Mannschaft mit mittelprächtigen Spielern aufgefüllt, im Glauben, die Stars würden den Unterschied machen. Vor allem in der Defensive sammelten sich Spieler, die dem hohen Niveau nicht gewachsen waren und mit ihren Fehlern Spiele zu Ungunsten Reals entschieden – Thomas Gravesen, Carlos Diogo, Cicinho. Und vor allem Francisco Pavón, der namensgebend für das Dilemma wurde: Zidanes y Pavónes, Zidanes und Pavóns, war die ursprünglich positiv gemeinte Bezeichnung für Reals Transferkonzept (Superstars und eigene Talente), entwickelte sich aber zu einer negativen Redewendung (Superstars und Nieten)[iv]. Die Galaktischen scheiterten an ihren O-Ringen.
[1] Benannt ist die Theorie nach der aus Technik und Handwerk bekannten O-Ring-Dichtung, um genau zu sein, nach der O-Ring-Dichtung des Space Shuttle Challenger. Das millionenteure, auf höchstem technischem Stand befindliche Raumschiff explodierte 1986 kurz nach dem Start, weil eine winzige O-Ring-Dichtung versagte.
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