Direkt zum Hauptbereich

IRRTUM: Mauerfußball wurde in Italien erfunden

 Nach wie vor verbinden die Fußballfans weltweit vor allem Italien mit dem unansehnlichen Mauerfußball der 60er Jahre. Denn war es nicht Inter Mailands Trainer Helenio Herrera, der den Catenaccio erfand, den zerstörerischen Riegel-Fußball?

Nein. Der Erfinder des unbeliebten Spielstils war Österreicher, und er entwickelte sein System für die Nationalmannschaft der Schweiz. Als Karl Rappan 1937 Nationaltrainer der Eidgenossen wurde, spielten fast alle Teams einen sehr offensiven Fußball, entweder im „WM-System“, im Prinzip ein           3-4-3, oder sogar noch im klassischen 2-3-5. Auch die Schweizer, die damals als eines der schwächsten Teams Europas galten, waren vor Rappans Amtsantritt mit fünf Angreifern und nur zwei Verteidigern ins Unglück gestürmt. Der neue Trainer tüftelte lange an einer Taktik, mit der seine schwachen Spieler eine Chance gegen stärkere Mannschaften hatten, und kurz vor der WM 1938 präsentierte er die Lösung: Den sogenannten „Schweizer Riegel“. Rappan zog die beiden Außenläufer des 2-3-5 als Außenverteidiger zurück. Die nunmehr vier Verteidiger wurden zusätzlich vom früheren zentralen Mittelfeldspieler unterstützt, der von nun an direkt vor der Abwehr spielte – heute würde man seine Rolle als „Sechser“ bezeichnen. Die beiden Innenverteidiger stellte Rappan nicht, wie gewohnt, nebeneinander auf, sondern hintereinander, so dass ein Mann hinter der Abwehrreihe auf gegnerische Durchbrüche lauerte – der Prototyp des Liberos. Während die Abwehrreihe positionstreu spielte, verschoben sich der „Libero“ und der „Sechser“ entsprechend den Bewegungen des Gegners und riegelten so alle Lücken in der Defensive ab. Dafür entstand eine neue Lücke auf dem Feld – die weit vorne spielenden klassischen Stürmer hingen ohne ihre gewohnten Außenläufer und zentralen Mittelfeldregisseure in der Luft. Also zog Rappan sie weit zurück und ließ sie auf Konter lauern[i]. Mit diesem Spielsystem schlugen die Schweizer bei der WM überraschend die hohen Favoriten aus Großdeutschland; nach dem Zweiten Weltkrieg spielten sie eine Zeitlang sogar enorm erfolgreich und erreichten bei der WM 1954 das Viertelfinale.

Etwa zu dieser Zeit kam der Schweizer Riegel auch erstmals im italienischen Ligafußball an – wer genau ihn zuerst einsetzte, ist unklar. Allerdings war der Riegel auch in Italien zunächst die Waffe der Außenseiter, nicht die Taktik der Topteams wie Inter Mailand. Dort perfektionierte dann Anfang der 60er Helenio Herrera das System, indem er noch weniger Stürmer einsetzte und sein Team noch mehr auf überfallartige Konter einstellte. So entwickelte sich der typisch italienische Catenaccio (was auch „Riegel“ bedeutet), der bis heute immer mal wieder Anwendung findet[ii]. Aber aus Italien stammt die Idee nicht – übrigens ebenso wenig wie Herrera. Der war gebürtiger Argentinier und besaß die französische Staatsbürgerschaft…[iii]   

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

IRRTUM: Während des Weihnachtsfriedens schlug ein deutsches Team ein englisches (Weihnachtsspezial 2)

  Es ist eine Geschichte, fast zu kitschig, um wahr zu sein: Weihnachten 1914, im ersten Jahr des Ersten Weltkrieges, verbrüderten sich zumindest mancherorts die deutschen und englischen Soldaten (und einige Franzosen), die sich in den Schützengräben gegenüberlagen, spontan. Entgegen ihren Befehlen verließen sie ihre Stellungen, sangen und feierten gemeinsam im Niemandsland, tauschten Rationen und Ausrüstung – und spielten auch Fußball. Bis dahin stimmt das alles. Es mag ein bisschen merkwürdig anmuten (und ist vielleicht der deutsch-englischen Fußballrivalität geschuldet), dass bei einer Geschichte um Versöhnung und internationale Verständigung so viel darüber gesprochen wird, wer dieses Fußballspiel denn nun gewonnen hat. In Deutschland wird durchgängig von einem deutschen Sieg ausgegangen, in England gibt es sowohl Überlieferungen, nach denen die Deutschen am Ende die Nase vorn haben, als auch solche, in denen die Engländer siegen. Aber alle, die von dem deutschen oder engli...

IRRTUM: Eine Doppelbestrafung (Rote Karte und Elfmeter für ein Foul) ist verboten

 Vor ein paar Tagen hatte die deutsche Frauennationalmannschaft bei der Europameisterschaft einen herben Rückschlag zu beklagen: Das letzte Vorrundenspiel gegen Schweden ging mit sage und schreibe 1:4 verloren. Ein Aspekt des Debakels: Beim Stand von 1:2 klärte Abwehrspielerin Carlotta Wamser einen Torschuss mit der Hand auf der deutschen Torlinie – Platzverweis für Wamser und Elfmeter für Schweden. Fridolina Rolfö verwandelte zum 3:1 aus schwedischer Sicht. Und in Deutschland gab es einen Aufschrei. Denn man wurde ja doppelt bestraft – mit einer roten Karte und einem Elfmeter! Und ist nicht die Doppelbestrafung (manchmal auch als Dreifachbestrafung bezeichnet, weil ja auch noch eine Sperre für den Rotsünder folgt) heutzutage verboten?   Nein. Die so oft diskutierte „Abschaffung der Doppelbestrafung“ bezieht sich auf eine ganz bestimmte Situation, nämlich auf die sogenannte Notbremse. Eine Notbremse liegt vor, wenn eine direkte Torchance durch ein Foul vereitelt wird. Bi...

IRRTUM: Jesus und seine Jünger waren die ersten Fußballer (Weihnachtsspezial 1)

 Okay, natürlich glaubt niemand wirklich, dass Jesus und seine Jünger die erste Fußballmannschaft waren. Aber ein beliebter Witz behauptet, eine Bibelstelle lege diese Interpretation nahe. Denn schließlich heißt es in der Heiligen Schrift: "Jesus stand im Tor von Nazareth, und die Jünger standen Abseits". Witzig. Aber nur, wenn sich dieses Zitat oder zumindest ein ähnliches tatsächlich in der Bibel findet. Doch das ist leider nicht der Fall. Die vermeintliche Bibelstelle ist frei erfunden [i] .  Auch ein zweiter populärer Bibel-Fußballwitz teilt dieses Schicksal:   Die deutsche Nationalmannschaft wird schon in der Bibel erwähnt! Denn dort heißt es: „Sie trugen seltsame Gewänder und irrten planlos umher.“   Aber auch dieses vermeintliche Bibelzitat ist keines. In diesem Fall gibt es aber tatsächlich eine echte Bibelstelle als möglichen Hintergrund. Denn in Jeremia 50,6 steht geschrieben: „…ihre Hirten führten sie in die Irre, trieben sie ziellos in die...