Im Halbfinale der WM 2014 im eigenen Lande wurde Brasilien bekanntermaßen in einem Jahrhundertspiel von der deutschen Nationalmannschaft mit 7:1 abgeschossen – eine der höchsten Niederlagen Brasiliens überhaupt, die höchste Niederlage, die es je in einem WM-K.O.-Spiel gegeben hatte und die höchste WM-Niederlage eines Gastgebers aller Zeiten. Kurz, ein spektakuläres Debakel aus brasilianischer Sicht. Natürlich hat sich das Spiel in beiden Ländern stark in der Fußball-Erinnerungskultur eingeprägt, bis heute wird immer wieder daran erinnert. Und in Deutschland tauchen dann immer wieder zahlreiche kleine Geschichten darüber auf, wie Brasilien dem Desaster ironisch oder wehmütig gedenkt – etwa mit dem Craft-Beer „7:1“, das sieben Zutaten aus Deutschland und brasilianisches Wasser enthält… Eine der beliebtesten Anekdoten, auch in seriösen Medien, ist die, gol da alemanha („Tor für Deutschland“) sei mittlerweile in die brasilianische Umgangssprache eingegangen und werde ausgerufen, wenn jemandem ein Unglück passiere. Aber stimmt diese ständig wiederholte Behauptung überhaupt?
(ACHTUNG: Im Folgenden werden meine Recherchen ausführlich dargelegt. Wer nur die simplen Fakten braucht, kann gleich zum Fazit am Ende weiterspringen!)
Ich hatte große Zweifel und konsultierte zunächst Tom Williams‘ Standardwerk über internationale Fußballphrasen, Sprichst du Fußball? Das 2019 erschienene Buch widmet Brasilien ein eigenes Kapitel und geht natürlich auch auf das 7:1 ein. Laut Williams wird das Spiel heute als Mineirazo bezeichnet, die „Schande von Mineirão“. Eine „Tor-für-Deutschland“-Redewendung erwähnt er hingegen nicht. Wäre ihm eine solche tatsächlich entgangen?
Auch eine Google-Suche nach gängigen brasilianischen Redewendungen brachte keine Resultate; keine Sammlung von Phrasen und Redewendungen, die nach 2014 erschien, enthielt die Phrase gol da alemanha (Beispiele hier und hier).
Also gab ich die Phrase in die Google-Buchsuche ein. Das Resultat: Google fand 29 nach 2014 erschienene Bücher, Artikel oder Studienarbeiten, die die Phrase enthielten. 15 davon waren brasilianisch, acht deutsch (vier kamen aus anderen Ländern). Ausschließlich in den deutschen Büchern und Artikeln wurde behauptet, es handele sich um eine gängige Redewendung. Mit einer Ausnahme verwendeten alle nicht-deutschen Werke die Phrase mit direktem Bezug auf ein Fußballspiel, in dem Deutschland ein Tor schießt (nicht zwingend dem 7:1 – auch ein Buch über das Wunder von Bern war dabei).
Die Ausnahme ist Catarses crônicas von Vânia Gomes (2016). Es handelt sich um ein Buch mit Betrachtungen zu Leben und Politik in Brasilien, und in einem Kapitel vergleicht die Autorin die Zustände in Deutschland mit denen in Brasilien – etwa, wie viele Krankenhäuser es pro Einwohner gibt, wie groß der Gender pay gap ist oder wie es um Korruption steht. Jeder Vergleich geht zu Gunsten Deutschlands aus, und jeden Vergleich beendet Gomes mit den Worten gol da alemanha – hier eindeutig zu lesen als „Punkt für Deutschland“, nicht als „So ein Mist“.
Langsam keimte in mir der Verdacht, dass es sich bei der Behauptung um die Redewendung gol da alemanha um einen rein deutschen Mythos handelt. Also überprüfte ich, was englischsprachige Websites zum Thema zu sagen hatten. Ich fand – ganze zwei!
Die englischsprachige Wikipedia gibt die Behauptung über die Redewendung tatsächlich so wieder, wie wir sie auch aus Deutschland kennen – und nennt als einzige Quelle dafür einen Artikel aus der deutschen Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Und jetzt kommts: Eine weitere Überprüfung ergab, dass die Wikipedia-Artikel in zahlreichen Sprachen einen Satz zu dieser Behauptung haben – und allesamt (bizarrerweise sogar der portugiesische) als einzige Quelle den FAZ-Artikel nennen. Es gibt offenbar keine andere Quelle dafür, nicht einmal auf Portugiesisch!
Wir werden gleich noch einmal näher auf diesen FAZ-Artikel eingehen; zunächst aber ein kurzer Blick auf die zweite englischsprachige Seite, die eine „Tor für Deutschland“-Redewendung zu kennen meint: Die Zeitung Times of Malta. Die veröffentlichte im Juli 2020, zum sechsjährigen Jubiläum des Spiels, einen Artikel, in dem behauptet wurde, Brasilianer würden „Tor für Deutschland“ im Alltag sagen – allerdings nicht etwa, wenn ihnen etwas Unangenehmes passiere, sondern wenn sich etwas andauernd wiederhole! Also etwa „…und schon wieder Tor für Deutschland…“ Das ist eine völlig andere Verwendung als bisher behauptet… Aber auch für diese angebliche Verwendung der Phrase gibt es keine weiteren Quellen.
Und dann half mir bei meinen Recherchen Reddit weiter.
Im März 2018 postete ein mittlerweile gelöschter User in r/todayilearned:
Heute habe ich gelernt: In Brasilien wird die Phrase „Tor für Deutschland“ (gol da alemanha) verwendet, wenn dir etwas Schreckliches passiert. [Übersetzung aus dem Englischen von mir]
Woher der Redditor das „gelernt“ hatte, schrieb er nicht, aber: Der Post wurde am Tag eines Freundschaftsspiels zwischen Deutschland und Brasilien im Berliner Olympiastadion verfasst. Sehr wahrscheinlich handelte es sich um einen deutschen Redditor, der die Behauptung im Rahmen der Vorberichterstattung gehört hatte.
Jedenfalls reagierten darauf mehrere Redditoren, die von sich behaupteten, aus Brasilien zu stammen. Vier gaben an, die Phrase nie gehört zu haben oder sogar mit Bestimmtheit sagen zu können, dass es eine solche Redewendung nicht gäbe; zwei andere behaupteten dagegen, sie schon einmal gehört zu haben. Dass sie wirklich gängig sei, wollte niemand bestätigen.
Und dann stieß ich auf einen noch älteren Beitrag: Im August 2016, rund zwei Jahre nach dem Spiel, fragte ein weiterer mittlerweile gelöschter Redditor in r/brazil:
Ist „gol da alemanha“ immer noch eine gängige Redewendung unter Brasilianern? Ein paar Freunde und ich haben das diskutiert.
Die Antworten waren ziemlich eindeutig (obwohl sich wieder zwei Redditoren fanden, die behaupteten, die Wendung gehört oder gar selbst benutzt zu haben). So schrieb ein User namens „htraos“: Es ist keine gängige Redewendung, aber jeder, der die letzten zwei Jahre nicht unter einem Stein gewohnt hat, wird wissen, was die Phrase bedeutet.
Ein bisschen mehr Hintergrundinfo gab es von „nerak33“: Es war nie eine Redewendung, aber „gol da alemanha“ war ein starkes Meme für ein paar Wochen. „Etwas passiert, und dann Tor für Deutschland“ war für eine Weile ein sehr beliebter Witz.
Und ähnlich sah es „APCOMello“: Ich glaube eigentlich nicht, dass es jemals eine [Redewendung] war. […] Ich erinnere mich, dass es in den Monaten danach ein ausgelutschter Witz war, zu sagen „Während ______________, noch ein Tor für Deutschland!“, aber das hielt nicht lange an. [Alle Übersetzungen aus dem Englischen von mir].
Aber warum gibt es dann in Deutschland die hartnäckige Vorstellung, gol da alemanha wäre eine gängige Redewendung? Damit zurück zum bereits erwähnten FAZ-Artikel.
Im Juli 2015, genau ein Jahr nach dem Spiel, schrieb David Klaubert einen Artikel über die Folgen des Spiels für die brasilianische Volksseele für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Brasilien feiert 365 Tage ohne deutsches Tor. Dieser Artikel ist die älteste Quelle für die angebliche Existenz der Redewendung, die ich finden konnte, und ist an anderer Stelle (etwa Wikipedia) meist die einzige aufgeführte Quelle. Ich bin überzeugt: Glauberts Artikel ist „Patient Zero“, der Geburtsort des Mythos. Und woher zog Glaubert seine Behauptung? Laut seiner Autorenbiografie war er von Mai bis Juli 2014, also just zur Zeit des Spiels, Gastredakteur bei der Zeitung Folha de S. Paulo in Brasilien – zu der Zeit, als den Redditoren zufolge jedermann in Brasilien gol-da-alemanha-Witze riss. Möglicherweise hat Glaubert den Spruch tatsächlich im von ihm behaupteten Sinne gehört und schlicht ein Jahr später im fernen Deutschland überschätzt, wie verbreitet und vor allem langlebig dieser Gag sein würde.
Fazit
Es ist schwer, die Nichtexistenz von etwas abschließend zu beweisen – bei einer Redewendung um so mehr. Wer kann schon sagen, dass absolut niemand jemals gol da alemanha als Fluch benutzt hat? Aber da es in der brasilianischen Literatur nirgends in diesem Sinne zu finden ist, außerhalb des deutschsprachigen Raumes völlig unbekannt ist und die anekdotische Evidenz extrem schwach ist, kann man mit einiger Sicherheit sagen, dass es sich nicht um eine gängige Redewendung handelt, die man in Brasilien oft zu hören bekommt. Der wahre Kern der Legende dürfte in den brasilianischen running gags in den Wochen nach dem Spiel liegen – und in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der daraus fälschlich eine gängige Redewendung machte.
Quellen:
Williams, Tom: Sprichst du Fußball? München 2019
Eigene Recherchen
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