Im Finale der Heim-Weltmeisterschaft 1974 war Deutschland gegen die Niederlande praktisch sofort in Rückstand geraten – Berti Vogts verursachte einen Elfmeter, den Johan Neeskens zum 1:0 verwandelte, noch bevor ein einziger deutscher Spieler den Ball berührt hatte. Doch den Deutschen gelang die Wende: In der 24. Minute bekamen sie ebenfalls einen Elfmeter, als Bernd Hölzenbein im Strafraum fiel. Paul Breitner stellte auf 1:1. In der 43. Minute brachte Gerd Müller Deutschland in Führung, und dabei blieb es dann – Deutschland war zum zweiten Mal Weltmeister!
Und zwar zu Unrecht, wie selbst in Deutschland weithin geglaubt wird. Viele Mythen kursieren darum, dass die Niederländer eigentlich besser gewesen seien und um den verdienten Sieg betrogen wurden. Die bekannteste Geschichte: Der Elfmeter sei eigentlich unberechtigt gewesen, Bernd Hölzenbein hätte eine Schwalbe hingelegt – oft hört man sogar „eine peinliche Schwalbe“ oder „eine offensichtliche Schwalbe“. Erfahrungsgemäß stellen populäre Mythen die heimische Mannschaft eher in ein besseres als in ein schlechteres Licht. Wenn also in Deutschland allgemein davon ausgegangen wird, dass Hölzenbein den Elfmeter mit einer Schwalbe herausholte, dann wird es ja wohl so gewesen sein – oder?
Nein.
Es reicht eigentlich, sich die Szene noch einmal anzusehen, das Bildmaterial ist gut genug. Es handelt sich um ein klares Foul im Strafraum und damit um einen korrekten Elfmeter.
Hölzenbein führt den Ball im Strafraum; Wim Jansen grätscht nach dem Ball, obwohl er viel zu weit entfernt ist, um ihn zu erreichen. Er trifft Hölzenbein mit dem ausgestreckten Fuß an der Innenseite des linken Fußes, der kommt zu Fall. Klarer Elfmeter, und weder die Niederländer auf dem Platz noch die Journalisten, die in den nächsten Tagen über das Spiel berichteten, bestritten das.
Wie kommt es dann aber, dass heute allerorten von einer Schwalbe die Rede ist? Dem ging Ronald Reng für sein Buch 1974. Eine deutsche Begegnung (2024) nach. Er schreibt:
„Die Geschichte vom angeblich umstrittenen Strafstoß ist ein Paradebeispiel, wie Mythen in der Geschichtsschreibung entstehen, und sei es nur in der Sporthistorie.“
Nach Hölzenbeins Erinnerung wurde er zwölf Wochen nach dem Spiel, im September 1974, vom BILD-Reporter Karl-Walter Reinhardt mit der Behauptung konfrontiert, der Reporter habe Hölzenbeins „Trick“ durchschaut, das Manöver, wegen dem er „so viele Elfmeter zugesprochen“ bekomme. Dabei nahm Reinhardt nicht speziell Bezug auf das WM-Finale. Hölzenbein tat die Angelegenheit nach eigener Aussage mit einem „angeberischen“ Grinsen ab.
Am nächsten Tag musste er zu seinem Erschrecken in der BILD einen Artikel mit der Überschrift Jawohl, ich habe mich für den Elfmeter hingelegt lesen. In diesem Artikel wurden ihm frei erfundene Aussagen in den Mund gelegt – etwa „Ich habe mich bei den Elfmetern im Polen-Spiel und im Finale fallen gelassen!“
Als Hölzenbein anwaltlich gegen den Artikel vorging, eskalierte die Angelegenheit erst recht. Zwar musste die BILD eine Richtigstellung abdrucken, aber andere Medien berichteten nun über den vermeintlichen Streit um den fragwürdigen Elfmeter – und damit war die Behauptung von dem zweifelhaften Strafstoßentscheid in der Welt und ist bis heute nicht totzukriegen.
Hölzenbein selbst ging später entspannt damit um, machte sich aber immer wieder gerne einen Spaß daraus, Journalisten die Szene in Zeitlupe vorzuspielen. „Nach der Super-Super-Super-Super-Zeitlupe sind die Leute meistens still“, wird er von Reng zitiert.
Quellen: Reng, Ronald: 1974. Eine deutsche Begegnung. München 2024; Hars, Wolfgang: 0,5:0 – Die wundersamsten Fußball-Irrtümer und Legenden. Frankfurt am Main, 2005
Kommentare
Kommentar veröffentlichen