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IRRTUM: Handball ist besser als Fußball, weil...

 Verschiedene Sportarten werden immer dann, wenn sie gerade ein Großereignis haben, zur besseren Alternative zum Fußball erklärt. In Deutschland betrifft das insbesondere den Handball. Wann immer eine Handball-WM oder EM stattfindet, tauchen Meinungsartikel in den gängigen Online-Portalen auf, die uns darüber aufklären wollen, „Warum Handball geiler ist als Fußball“ oder „Was der Fußball vom Handball lernen kann/muss“. Dass Fußball weltweit Sportart Nummer 1 ist, während Handball global gesehen eine Randsportart und selbst in Deutschland viel weniger populär als Fußball ist, wird dann gerne übersehen. Müsste so gesehen nicht eher der Handball vom Fußball lernen?

Zumindest haben die meisten Kommentare zum Thema wenig Substanz. Neben vagen, subjektiven Behauptungen wie „Handball hat die krasseren Typen“ tauchen auch stetig wiederholte Fehlinformationen in solchen Beiträgen auf. Hier sehen wir uns ein paar typische Argumente an, die nachweislich falsch sind.

 Achtung: Es geht hier keinesfalls darum, zu beweisen, dass Fußball „besser“ ist als Handball – solche Debatten über Sportarten sind völlig unsinnig. Wir wollen lediglich über ein paar faktisch falsche Behauptungen aufklären, die in diesem Zusammenhang regelmäßig fallen. Welche Sportart dem Leser mehr Freude macht, bleibt davon unberührt und ihm natürlich komplett selbst überlassen!

 

-        Im Fußball wird dauernd gejammert und geschauspielert, im Handball gibt es keine Schwalben.

Hier ist der erste kapitale Irrtum zu finden. Schwalben sind im Handball ein Riesenproblem, viel mehr als im Fußball, und sie fallen auch viel dreister aus. „Die Meckerei war auf konstant hohem Niveau. Aber die Schauspielereien haben zugenommen“, klagte der deutsche Handball-Schiedsrichter Lars Geipel im Rahmen einer Fortbildung 2014 über die damals gerade vergangene Saison, und Schiedsrichterwart Peter Rauchfuß schilderte einige der Szenen, die bei der Fortbildung gezeigt wurden: „Es waren Situationen dabei, da haben sich Spieler selbst ins Gesicht geschlagen. Diese Verarsche können wir uns nicht gefallen lassen[i].“ Auch nackte Zahlen stützen diesen Eindruck. Eine Studie der Universität Augsburg zum Thema „Schlechtes Benehmen im Sport“, für die Daten von Schiedsrichtern aus den Ballsportarten Fußball, Handball, Basketball und Volleyball ausgewertet wurden, ergab: Im Handball gibt es mit Abstand die meisten Schwalben – in 51% aller Handballspiele kommt es zu einem vorgetäuschten Foul, im Fußball dagegen nur in 37,5% der Partien.

 

-        Im Handball herrscht mehr Respekt gegenüber Schiri und Gegner, man ist viel fairer

     Auch dem Klischee des besonders fairen Handballs macht die Studie aus Augsburg den Garaus. In der Studie wurden aus mehreren unfairen Verhaltensweisen genormte Indices für die Häufigkeit negativen Verhaltens gebildet. „Durchschnittlich negatives Verhalten“ hat in diesem System einen Wert von 100, Werte über 100 bedeuten also auffällig negatives Verhalten der Akteure. Tatsächlich liegt der Fußball in fast allen Kategorien an der Spitze – aber in fast allen Kategorien liegt Handball auf Platz 2, meist so knapp hinter Fußball, dass der Unterschied in Wirklichkeit keine Rolle spielt. So kommt Fußball bei „Negativem Trainerverhalten“ auf einen Wert von 108,1, Handball auf 104,5. Beim „Unfairen Verhalten gegenüber Schiedsrichtern“ ist der Unterschied noch geringer – Fußball 104,0, Handball 103,3.

      Zwei Ausnahmen sollen nicht unerwähnt bleiben: Bei „Allgemein schlechtem Verhalten“ (gemeint sind „Unhöflichkeiten“ wie Fluchen, unflätige Ausdrücke und Spucken) liegt der Fußball deutlich in Front (111,8 – Handball 98,7). In Sachen Brutalität und Missachtung der Gesundheit des Gegners ist dagegen der Handball klarer Spitzenreiter: In 17,3% der Handballspiele ist ein mutwillig die Gesundheit des Gegners missachtendes Foul zu erwarten – gegenüber 10% der Fußballspiele. Und Handballtrainer fallen besonders dadurch auf, dass sie ihre Spieler zu Fouls und Unsportlichkeiten auffordern (Fußballtrainer schimpfen hingegen besonders viel auf die Schiedsrichter).

 

Diese Werte sind erschreckend für den Handball, denn eigentlich wäre aufgrund der geringeren Bedeutung und der niedrigeren Zuschauerzahl zu erwarten, dass Handballspiele wesentlich fairer wären. Im Fußball zeigt sich nämlich:  Je mehr Druck auf den Spielern liegt, je mehr Ruhm und Geld auf dem Spiel stehen, desto mehr Schwalben gibt es. Auch die Zahl der Zuschauer beeinflusst Proteste und Schwalben, wie der enorme Rückgang in beiden Bereichen bei Geisterspielen in der Corona-Krise beweist[ii]. Da der Fußball sich hier in ganz anderen Sphären bewegt als der Handball, wären bei Letzterem auch weniger Schwalben und weniger Gemecker zu erwarten.

Außerdem bieten sich Spielfluss und Regeln beim Handball weniger für Schauspielerei an als beim Fußball. Zum Beispiel muss ein Handballspieler, wenn er nach einem Foul am Boden liegen bleibt, danach drei Angriffe lang aussetzen[iii]. Und: Da die Unterbrechungen im Handball kürzer ausfallen, riskiert ein Spieler, der protestiert oder schauspielert, den nächsten Angriff zu verpassen.

Wenn man diese zwei Aspekte im Hinterkopf behält, sind die Zustände im vermeintlich so ehrlichen Handball bedrückend.

Woher kommt also der Glaube, im Handball ginge es fairer zu? Da ist zum einen natürlich der große Wunsch nach einer faireren Alternative zum Fußball, die zur Selbsttäuschung führt. Ein wichtiger Aspekt dürfte aber auch sein, dass einzelne Situationen im Fußball von größerer Bedeutung sind und daher stärker in Erinnerung bleiben. Ein Elfmeter für eine Schwalbe kann ein Fußballspiel entscheiden; ein ungerechter Strafwurf im Handball führt nur zu einem von vielen Toren des Spiels…[iv]

 

-        Handball ist spannender.

      Handball mag manchmal aufregend sein, aber es ist nicht spannender als Fußball. Denn: Spannend ist, wenn man nicht weiß, wie’s ausgeht. Im Handball sind die Favoriten höher favorisiert als im Fußball, und sie gewinnen fast immer; im Fußball dagegen hat der Außenseiter eine realistische Siegchance, so dass es zu wesentlich mehr Überraschungen kommt. In nackten Zahlen: Im Fußball siegt der Favorit in ziemlich genau 50% der Spiele, im Handball in mehr als 75%. Das kommt im Wesentlichen durch die vermeintlich nachteilige geringe Zahl an Toren im Fußball zustande. Wie diese sich positiv auf Spannung und Attraktivität des Fußballs auswirkt, haben wir bereits in einem früheren Beitrag ausführlicher untersucht. Kein Wunder, dass Fußball viel mehr Zuschauer hat als Handball – dem Fußballzuschauer wird wesentlich mehr Spannung geboten!

 

-        Handball ist bodenständig und nicht so korrupt wie Fußball

    Vor der fragwürdig nach Katar vergebenen Fußball-WM 2022 gab es die fragwürdig nach Katar vergebene Handball-WM 2015. Richtig – der bodenständige Handball hat sich noch vor dem Fußball an die Sportswashing-Politik des Emirats verkauft! Anders als beim Fußball konnte der Gastgeber aber sogar eine Mannschaft aus Stars zusammenkaufen, die zuvor schon bei anderen Nationalmannschaften im Einsatz gewesen waren… Ob nun ein Sport insgesamt „korrupter“ ist als ein anderer, ist schwer zu beurteilen, aber zumindest unterscheiden sich die Probleme im Handball (obwohl es um viel weniger Geld geht) nicht wesentlich von denen im Fußball – autoritäre Weltverbandspräsidenten, verschobene Spiele, korrupte Schiedsrichter, Dopingvorfälle

 

Am Ende bleibt also nicht viel von Gehalt übrig, wenn man die üblichen „Pro-Handball“-Argumente durchleuchtet. Vielleicht sollten wir alle uns in Zukunft einfach wieder darauf einigen, dass jeder die Sportarten genießen soll, die ihm gefallen, statt verzweifelt nach Argumenten dafür zu suchen, dass die eigene Wahl „besser“ ist.

 

Quellen: Engelhardt et Al., Schlechtes Benehmen im Sportspielvergleich - die Verbreitung von Verhaltensnormen für Spieler, Trainer und Zuschauer sowie bei Konflikten mit dem Schiedsrichter in: Elf Freunde sollt ihr sein!? 38. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (asp) gemeinsam mit dem Bundesinstitut für Sportwissenschaft vom 25. bis 27. Mai 2006 in Münster, Hamburg 2006; Anderson, Chris und David Sally: Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Reinbek bei Hamburg 2014. Weinreich, Jens: Korruption im Handball: Der Aufstieg des Manipulators. 2009 (https://www.stern.de/sport/sportwelt/korruption-im-handball-der-aufstieg-des-manipulators-3423406.html)  

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